Ich bin auf einen Gedanken gekommen, den ich Ihnen, weil er für meine übrige Reise bedeute
Ich bin auf einen Gedanken gekommen, den ich Ihnen, weil er für meine übrige Reise bedeutend werden kann, sogleich mittheilen will, um Ihre Meinung zu vernehmen in wie fern er richtig sein möchte? und in wie fern ich wohl thue mich seiner Leitung zu überlassen? Ich habe indem ich meinen ruhigen und kalten Weg des Beobachtens , ja des bloßen Sehens ging, sehr bald bemerkt daß die Rechenschaft, die ich mir von gewissen Gegenständen gab, eine Art von Sentimentalität hatte, die mir dergestalt auffiel daß ich dem Grunde nachzudenken sogleich gereizt wurde, und ich habe folgendes gefunden: Das was ich im allgemeinen sehe und erfahre schließt sich recht gut an alles übrige an, was mir sonst bekannt ist, und ist mir nicht unangenehm, weil es in der ganzen Masse meiner Kenntnisse mitzählt und das Capital vermehren hilft. Dagegen wüßte ich noch nichts was mir auf der ganzen Reise nur irgend eine Art von Empfindung gegeben hätte, sondern ich bin heute so ruhig und unbewegt als ich es jemals, bei den gewöhnlichsten Umständen und Vorfällen gewesen. Woher denn also diese scheinbare Sentimentalität, die mir um so auffallender ist, weil ich seit langer Zeit in meinem Wesen gar keine Spur, außer der poetischen Stimmung, empfunden habe. Möchte nicht also hier selbst poetische Stimmung sein, bei einem Gegenstande der nicht ganz poetisch ist, wodurch ein gewisser Mittelzustand hervorgebracht wird?****Ich berufe mich auf das, was Sie selbst so schön entwickelt haben, auf das was zwischen uns Sprachgebrauch ist und fahre fort: Wann ist eine sentimentale Erscheinung (die wir nicht verachten dürfen wenn sie auch noch so lästig ist) unerträglich? Ich antworte: wenn das Ideale unmittelbar mit dem Gemeinen verbunden wird. Es kann dies nur durch eine leere, gehalt- und formlose Manier geschehen, denn beide werden dadurch vernichtet, die Idee und der Gegenstand; jene, die nur bedeutend sein und sich nur mit dem bedeutenden beschäftigen kann, und dieser, der recht wacker brav und gut sein kann ohne bedeutend zu sein.Goethe to Schiller, 16/17 August 1797 -- source link
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